In den frühen 1980er-Jahren erlebte die figurativ-gegenständliche Malerei in der westdeutschen Kunstszene eine Neubelebung. Rasch eroberte die als „heftig“ oder „wild“ betitelte Malerei Markt und Museen.
In den 1960er- und 1970er-Jahren bestimmen Strömungen wie die reduzierte Minimal Art und die entmaterialisierte Konzeptkunst den Kunstbetrieb. Das Medium Malerei galt als unzeitgemäß und überholt. An den westdeutschen Hochschulen standen Installation, Performance sowie Fotografie und Film im Fokus.
Durch Maler wie Georg Baselitz, Gerhard Richter und Sigmar Polke zeichnete sich bereits in der Nachkriegskunst eine Hinwendung zur figurativen Malerei ab. Sie waren Vorläufer der sogenannten Jungen Wilden, die in den 1980er-Jahren das Medium wieder in den Mittelpunkt rückten.
In Westdeutschland gehörten Berlin, Hamburg, Köln und Düsseldorf zu den Zentren dieser Entwicklung. An den Kunsthochschulen, in ihren Wohnungen und Ateliers schuf die um 1950 herum geborene Künstlergeneration Bilder von ungewöhnlicher Ausdruckskraft und Brisanz, die mit ihrer Vielgestaltigkeit und Direktheit gleichermaßen provozieren wie faszinieren.
Trotz ihrer ersten erfolgreichen Ausstellungen und Bilderverkäufe Anfang der 1980er-Jahre rechnete niemand mit dem immensen Hype, der bald darauf um die Künstler entstehen sollte.
ZWISCHEN FIGUR UND INFORMEL
In rötlichem Schimmer erstrahlt der Himmel am Horizont der Großstadt. Vor diesem Panorama sitzt schemenhaft dargestellt eine Person auf einer Mauer.
G. L. Gabriel war wie Salomé und Middendorf Schülerin bei Professor K. H. Hödicke an der Hochschule der Künste in Berlin. 1979 beteiligte sie sich erstmals an einer Gruppenausstellung in der Galerie am Moritzplatz. Wie andere Malerinnen auch stellte Gabriel in dieser Zeit regelmäßig ihre Werke aus. Bei den Künstlerinnen zeigte sich jedoch nicht die gleiche Gruppendynamik wie bei den männlichen Kollegen. Sie wurden weniger stark von dem Hype um die Malerei der 1980er-Jahre erfasst.
Ich wollte denen dort einfach mal zeigen das Frauen auch heftig malen können. Es gab ja nicht so viele Frauen die da Ausstellungen hatten.
G. L. Gabriel4
BLUTSTURZ
Wie von hellem Scheinwerferlicht angestrahlt leuchten die nackten Körper der beiden männlichen Figuren im dunklen Raum. Während der eine von ihnen an den Handgelenken gefesselt und blutüberströmt mit dem Rücken zum Betrachter steht, liegt der andere in gekrümmter Haltung zu seinen Füßen am Boden.
Salomé war in seinem künstlerischen Schaffen nicht nur darauf aus, Reaktionen zu provozieren. Seine Bilder zielen auf einen offensiven Umgang mit dem Thema der Homosexualität. West-Berlin war für die erstarkende Schwulenbewegung offener als die meisten anderen deutschen Städte. Salomé schloss sich Mitte der 1970er-Jahre der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW) an. Wie viele der Männer dort wählte auch Wolfgang Cihlarz – so sein bürgerlicher Name – ein Pseudonym: Salomé. Damit spielte er auf eine grausame biblische Geschichte an: Salome, die Tochter des Herodes, entzückte durch ihren ekstatischen Tanz ihr Publikum so sehr, dass ihr Vater ihr einen Wunsch gewährte. Angestiftet von ihrer Mutter, forderte Salome die Enthauptung Johannesʼ des Täufers.
Das war ein Lebensgefühl. Und daraus hat sich meine figurative Arbeit entwickelt. Auch aus dem politischen Kampf heraus, dem Emanzipations-willen und dem Willen, männliche Sexualität in anderer Form darzustellen. So offensiv gab es das vorher in der Malerei nicht.
Salomé5
GEILE TIERE
Der junge Schweizer Künstler Luciano Castelli besuchte 1978 eine von Salomés Ausstellungen in der Galerie am Moritzplatz. Wenig später begann ihre musikalische und künstlerische Zusammenarbeit.
Wenn du eine Show machst, denkst du dir was ganz Verrücktes aus, das du hinterher auch in der Malerei gebrauchen kannst.
Salomé7
FARBFELD-MALEREI
Bernd Zimmers großformatige Landschaftsdarstellungen stellen einen Kontrast zu den Bildern seiner Malerkollegen dar. Im Umfeld der Berliner Subkulturszene der 1980er-Jahre – zwischen einer sich emanzipierenden Schwulenbewegung, Punk und New Wave – wirkten seine Landschaften besonders herausfordernd. Zimmer ging es darum, die Grenzen der Malerei auszuloten.
Farbflächen in sattem Gelb, warmem Rotbraun und Ocker grenzen auf der 205 × 300 Zentimeter großen Leinwand aneinander. Sie erinnern auch ohne den Hinweis im Titel an eine Landschaft mit Feldern. Verstärkt wird der Eindruck durch den schmalen, tiefblauen Streifen am oberen Bildrand, der die Assoziation eines klaren Himmels hervorruft. Zimmer nimmt in seinen Werken Bezug auf die Farbfeldmalerei (engl. Colour Field Painting). Der Kunststil entwickelte sich Mitte der 1950er-Jahre im Umfeld der New York School in den USA.
GROSSSTADT-EINGEBORENE
Die schemenhaften Gestalten wirken wie wild tanzende Menschen im Dunkel einer Partynacht. Die starke Farbintensität, die nächtliche Atmosphäre und die heftigen Pinselstriche lassen ein energetisches Bild entstehen.
Helmut Middendorf produzierte eine ganze Werkreihe mit dem Titel „Großstadteingeborene“. Er verbindet in seiner Kunst die für ihn wesentlichen Elemente von Malerei und Musik miteinander. Die Intensität und Rohheit der Punkmusik und Subkultur werden direkt auf das große Format übertragen. So findet sich die Musik als „Kraftausdruck“ in den Bildern wieder.
LANGE NÄCHTE
Den Kopf auf einer Tischplatte abgelegt, schirmt die Person mit einer erschöpften oder vielleicht auch beschämten Geste ihr Gesicht mit den Händen ab. Die Tischdecke, eine abstrakte Farbfläche, bietet einen reizvollen Kontrast zur Figur des Trunkenen.
DIE TRUNKENEN KÜNSTLER
Die Tage im Morgenmantel
Und die Nächte im Rausch
wo die großen Ideen blühen
gleich hinter den Weinbergen
und sie es allen zeigen werden:
den Dichter-Fürsten und den Päpsten.
Detlev Meyer11
ZWEI
ERFINDER-INNEN
Im Zentrum eines abstrakten Farbstrudels befinden sich zwei in Grautönen gemalte Gestalten. Die monochrome, rechteckige Fläche hinter den Figuren könnte als Anspielung auf den Suprematismus gedeutet werden – eine abstrakte Kunstrichtung, die um 1915 in Russland entstand und in Kasimir Malewitsch ihren prominentesten Vertreter hatte. Die beiden Personen erinnern vage an den Stil des Sozialistischen Realismus, der ab 1932 offiziellen kommunistischen Kunstdoktrin, die nach 1945 im gesamten Ostblock verbindlich wurde. Der gestische Pinselstrich im Hintergrund verweist wiederum auf die informelle Malerei – die im Westen in der Nachkriegszeit prägende Kunstrichtung.
Martin Kippenberger kombiniert hier in einem Bild unterschiedliche Kunststile. Mit Ironie lenkt er so die Aufmerksamkeit auf die Widersprüchlichkeit eines Kunstbetriebs, der sich nach politischen Vorgaben im Dienste einer Ideologie ausrichtet. Vor allem aber führt er den Versuch, die abstrakte und die figurative Kunst gegeneinander ausspielen zu wollen, ad absurdum.
Der Titel ist Teil des Konzepts. Er weist die beiden Frauen als „proletarische Erfinderinnen“ aus. Ihr Ziel: ein Erfinderkongress. In der DDR wurden auf solchen Veranstaltungen „neue“ Errungenschaften vorgestellt. Oft waren diese jedoch bereits überholt und hatten im Westen längst Anwendung gefunden. In Ostdeutschland wurden die Neuerungen in verschiedenen Städten gleich mehrfach „erfunden“ und ausgezeichnet. Solche Absurditäten nahm sich Kippenberger häufig zum Thema und interpretierte sie in seiner Kunst mit dem für ihn typischen Humor.
JONGLIEREN MIT BEDEUTUNGEN
Ein Adler liegt, auf den Rücken gedreht, auf der Spitze eines Berges. Durch den Werktitel „Deutscher in Rio“ werden unweigerlich eine Reihe von Assoziationen ausgelöst: Der Adler als Bundeswappentier von Deutschland und der Berg, der mit seiner abgerundeten Form an den Zuckerhut, ein Wahrzeichen von Rio de Janeiro, erinnert.
Ziel ist nicht, eine final gültige Aussage zu treffen. Vielmehr sollen ein Raum für Assoziationen fern von jeglicher Ideologie geöffnet und Kategorisierungsversuche ad absurdum geführt werden. Themen aus Politik, Geschichte und dem eigenen Leben fließen in die Bilder ein, um die Malerei zu erfinden.
Charakteristisch ist das Jonglieren mit Bedeutungen und Inhalten. Der Künstler überträgt die Verantwortung, das heißt die Interpretation des Bildes, auf den Betrachter – auch ein politisches Statement.
Wir lesen morgens die Zeitung und malen mittags. Für das Ergebnis ist dieser Staat verantwortlich.
Albert Oehlen13
STEINEWERFER
Ein massiver Ziegelstein fliegt durch die Luft. Noch hat er sein Ziel nicht gefunden. Er befindet sich auf „Gelb“ – in der Schwebe zwischen Stillstand und Bewegung. Die aufgebrachte Meute, skizzenhaft angedeutet, naht im Hintergrund heran. Einer hat das Opfer schon am Arm gepackt.
Das Bild des Steinewerfers steht eigentlich für die gegen den Staat gerichteten Demonstrationen von Minderheiten. Georg Herold rückt jedoch das Opfer der Anfeindungen in den Fokus: den „Ziegelneger“. Indem er das Schimpfwort „Neger“ unkommentiert stehen lässt und keine eindeutige Haltung dazu formuliert, hält er Titel und Bild bewusst mehrdeutig in der Schwebe.
AKT MIT TROMPETE
Die dynamische Verbindung aus abstrakten Flächen und Linien bietet wenig Halt. Im Hintergrund übereinandergeschichtete Formen erinnern an die Silhouette einer Stadtlandschaft. Davor winden sich orangefarbene und schwarze Linien. Sie lösen die Gegenständlichkeit der Formen sofort wieder auf.
Akt und Stillleben – der Bildtitel spielt auf klassische Themen der Malerei an. Sie werden jedoch umgehend ironisiert und unterlaufen. Auch wenn eine Trompete und der Akt gerade noch auszumachen sind, wird das Bildgeschehen dadurch nicht wesentlich nachvollziehbarer. Im Gegenteil: Der überraschend eindeutige Titel lässt noch klarer hervortreten, dass sich der Großteil des Bildes einer Beschreibung verweigert.
Markus Oehlen übersprang die destruktive Phase, die seine Kollegen anfangs durchliefen. Er nahm Abstand von deren politisch-sarkastischen Ansätzen und widmete sich unmittelbar der Malerei. Zwar stellte er gelegentlich mit seinem Bruder Albert sowie Büttner, Herold und Kippenberger aus, doch entwickelte er einen eigenständigen Beitrag zur Malerei der Gegenwart. Textur, Umrisslinien, Farbe und Leinwand wurden selbst zum Thema der neuen Malerei.
MÜLHEIMER FREIHEIT
NR. 110
Im Herbst 1980 bezogen sechs Künstler ein Atelier in Köln-Deutz. Die Straße Mülheimer Freiheit, in der das Atelier lag, gab der Künstlergruppe ihren Namen. Mitbegründer Walter Dahn stellte 1981 seine Malerkollegen auf diesem Bild dar: Hans Peter Adamski, Peter Bömmels, Jiří Georg Dokoupil, Gerard Kever und Gerhard Naschberger.
ZWEI KOTZER
Die beiden Köpfe im Zentrum des Gemäldes speien rote Farbe in das dunkle Blau des Hintergrunds hinein. Ganz unvermittelt äußern Walter Dahn und Jiří Georg Dokoupil hier eine Grundstimmung, mit der sie auf sich selbst oder auf die Gesellschaft generell Bezug nehmen.
Es ging von Anfang an darum, eine Art Ehrlichkeit zu entwickeln. Man hatte eine Idee, eine Vorstellung, und es ging darum, die adäquate Lösung zu finden [...]
Jiří Georg Dokoupil15
KUH UND KIRSCHBLÜTEN
Eine Frau mit japanisch anmutender Kleidung und Frisur ist damit beschäftigt, eine Kuh zu melken. Der vordere Körperteil des Tiers löst sich im Grau des Hintergrunds auf.
Anstelle des Tierkopfs ragt ein Kirschblütenzweig ins Bild. Das Ganze wirkt, als habe der Künstler es aus herausgerissenen Ausschnitten einer Zeitschrift neu zusammengesetzt. Die Ausführung lässt an eine japanische Tuschmalerei denken. Auch die Flächigkeit des gemusterten, roten Paravents erinnert an eine japanische Kunstform, den Farbholzschnitt, der schon die Impressionisten inspiriert hatte.
Die zarte Malerei in Dispersions- und Aquarellfarbe wirkt wie eine sorgfältig ausgeführte Papierarbeit. Dagegen machen Auswahl und Anordnung der Motive eher einen beliebigen Eindruck. Angesichts einer Welt, in der alle Medien, Stile und Themen bereits ausgereizt sind, scheint es, als läge für Adamski die plausible Lösung in der Dekonstruktion von Stilen – eine andere Form des Bad Painting.
PARALLEL-WELTEN
In der figurativen Malerei der 1980er-Jahre wird nicht die Einheit des Bildganzen angestrebt. Zusammenhänge werden bewusst aufgebrochen. Das Moment der Auflösung wird damit zum Bildinhalt. Dieses Vorgehen könnte als eine Art Konzept und als verbindendes Element der Malergeneration betrachtet werden. Es bietet einen möglichen Zugang zum Verständnis dessen, was um 1980 zur radikalen Veränderung der Malerei geführt hat.
Geheimtipp
MALERISCHE MONTAGE
Was man nur am Original sehen kann
Ein roter Stern liegt – umgeben von züngelnden Flammen und Rauchschwaden – am Boden. Der Bildraum wird durchbrochen von zahlreichen Objekten. Auf den zweiten Blick stellen sie sich als auf den Malgrund montierte und bemalte Bücher heraus. In den symbolträchtigen Motiven eröffnen sich Anknüpfungspunkte zu Themen wie dem Kalten Krieg oder der Bücherverbrennung. Doch entzieht sich das Bild einer eindeutigen Lesbarkeit.
In einer Werkreihe, der auch „Stern in Not“ zugeordnet werden kann, zitiert Dokoupil den Stil des US-amerikanischen Künstlers Julian Schnabel, der unter anderem mit auf die Leinwand applizierten Keramikscherben arbeitet.
Dokoupil imitierte in seinen Werken auch den Stil anderer Künstlerkollegen. Durch den häufigen Stilwechsel stellte sich bei ihm nie ein Wiedererkennungseffekt ein – ein Gegenentwurf zu den Strategien des Kunstmarkts, für den die erkennbare Autorenschaft zentral ist.
Ein Tabu würde mich bald so nervös machen, dass ich mich damit befassen müsste.
Jiří Georg Dokoupil17